Weshalb kulturelle Aneignung problematisch ist
Wenn es plötzlich zum Trend wird, als weisse Frau eine Kopfbedeckung zu tragen, sich Braids flechten zu lassen oder sich an Halloween als ‘Indianer*in’ zu verkleiden, handelt es sich um kulturelle Aneignung. Eine dekoloniale Betrachtung zeigt, weshalb die Übernahme von ‘fremden’ kulturellen Elementen und Praktiken für die Enteigneten enorm verstörend und dehumanisierend wirken kann.
Ein neuer Trend unter weissen Frauen in der Schweiz ist, sich ein Halstuch über den Kopf zu ziehen, gelegentlich mit undefinierbaren Mustern, oft aber auch mit arabischen oder persischen Schriftzügen. In Bezug auf die Praktik der kulturellen Aneignung ist die Frage der Kopfbedeckung vielschichtig. Denn, ja, Kopftücher werden nicht nur von muslimischen Frauen getragen, sondern auch christliche Frauen bedeckten sich vor allem früher ihr Haar. Im Kontext der heutigen Schweiz und des gesamten europäischen Raumes jedoch erlangt die Aneignung der Kopfbedeckung durch junge weisse Frauen eine neue Bedeutung. Denn während das Tragen des Hijab (islamisches Kopftuch) muslimische Frauen rassifiziert, als ungebildet, rückständig und unterdrückt stigmatisiert und sie deshalb gesellschaftlich marginalisiert werden, erlangen weisse Frauen durch das Tragen einer Kopfbedeckung kulturelles Kapital innerhalb ihres sozialen Feldes. Es scheint als wären «ausländische Attribute nur dann gut, wenn Weisse sich diese aneignen, aber nicht an den Ausländern selbst», schreibt die Aktivistin Huma Ullah.
Beispiele der kulturellen Aneignung
Westliche Akteur*innen stellen nicht-westliche Regionen, Gesellschaften und ‘Kulturen’ wiederholt als ‘unterentwickelt’, ‘unzivilisiert’ oder ‘vormodern’ dar, dehumanisieren Bewohner*innen dieser Regionen und fühlen sich ihnen überlegen. Gleichzeitig prahlen weisse, gut betuchte Menschen gerne mit ihren Reisen in ebendiese Regionen, schmücken ihre Altbauwohnungen mit kulturellen Gütern, die sie dort erworben hatten und erzählen ihren Bekannten stolz von ihren abenteuerlichen Erlebnissen. Sie kleiden sich an Karneval oder Halloween als ‘Indianer*innen’ oder ‘Sumō-Ringer*innen’, flechten sich Braids, tragen Dreadlocks oder eröffnen Doga-Studios (Yoga mit Hunden). Dieses Sich-Aneignen von ‘fremden’ kulturellen Gütern und Praktiken wurde durch das Erstarken der Black Lives Matter (BLM) Bewegung auch im deutschsprachigen Raum vermehrt thematisiert und kritisiert, denn Kulturen sind weder Kostüme noch Trends.
Kulturelle Aneignung ist im englisch-sprachigen Raum als ‘cultural (mis)appropriation’ weit verbreitet und beschreibt das Phänomen, wenn von einer Kultur, die nicht die eigene ist, etwas genommen beziehungsweise sich etwas angeeignet wird. Der Begriff stammt vom lateinischen Verb appropriare, was so viel heisst wie to make one’s own’. Übernommen werden beispielweise sprachliche Ausdrucksformen, kulturelle Gegenstände, Kleidungsstyle oder kulturelle Praktiken. Die kulturellen Symbole oder Praktiken werden ohne Erlaubnis aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen und übernommen. Dabei gehören die Aneignenden einer privilegierten gesellschaftlichen Gruppe an als die Enteigneten, was der Hauptgrund ist, weshalb aus anfänglicher Wertschätzung oder Faszination einer kulturellen Tradition (neo-)koloniale Handlungen und Machtbeziehungen reproduziert werden. Kulturelle Aneignung beschreibt einen aktiven Prozess der Übernahme ohne Reziprozität oder Absprache.
Die Singularisierung der westlichen Mittelklasse
Sich Dinge anzueignen aus früheren Zeiten, tieferen sozialen Schichten und fremden Kulturen hilft Menschen der weissen Mittelklasse, ihr ‘wahres Selbst’ zu entdecken und sich als möglichst singuläre und einzigartige Individuen zu etablieren. Der Soziologe Andreas Reckwitz erklärt wie sich weisse mittelständische Menschen im Westen ihre Identitäten nach Belieben zusammenbasteln: «Die neue Mittelklasse fühlt sich auch berechtigt, sich fremde Kulturen anzueignen. So wie man sich Yoga aus Indien oder Tai-Chi aus China aneignet, so übernimmt man das Tattoo aus dem eigentlich urproletarischen Milieu, findet es cool. […] Und trinkt sein Bier in der urproletarischen Eckkneipe. Man bedient sich ungeniert im gesamten kulturellen Ressourcenhaushalt, inklusive der Vergangenheit. Man wohnt in Altbauwohnungen, hat ein Tattoo und macht Tai-Chi – historische Tradition, geographische Fremdheit und fremde Klasse werden sich angeeignet».
Das Problem ist beispielsweise nicht, dass Yoga in der westlichen Hemisphäre praktiziert wird, sondern inwiefern sich Menschen wirtschaftlich und symbolisch damit bereichern. Yoga, ursprüngliche eine indische hinduistische Praktik, wird in westlichen Kontexten oft so vermittelt, dass es nichts mehr mit der eigentlichen spirituellen, religiösen Praktik zu tun hat. In den USA zum Beispiel ersetzen Fitness-und Gesundheitszentren die ursprünglichen Gesänge und Chakras mit Fitnessterminologie. Die Anthropologin Sarah Strauss erklärt, dass das Praktizieren von Yoga den Yogis in bestimmten sozialen Feldern und gesellschaftlichen Milieus zur Erlangung von spirituellem und somit sozialem Kapital verhilft. Die berühmtesten und einflussreichsten Yogis in den sozialen Medien sind weiblich, weiss, gebildet und schlank, während weder schwarze noch kurvige Körper vertreten sind. Die Yogis und Influencerinnen, die den westlichen Schönheitsidealen entsprechen, gewinnen durch das Praktizieren von Yoga nicht nur spirituelles Kapital, sondern erhalten auch mehr finanzielle Unterstützung, mehr Sponsoring, Modelanfragen und Unterrichtmöglichkeiten.
Statuserlangung durch die Aneignung des Fremden
Die Menschen, die sich ‘fremde’ Objekte oder Praktiken aneignen, sind sich oft nicht bewusst, dass ihre Handlungen für diejenigen, dessen kulturellen Güter angeeignet werden, störend oder irritierend sind. Sie haben keine bösen Absichten, sondern empfinden oftmals eine Faszination, Wertschätzung oder Bewunderung für etwas. Die Sache ist jedoch die: Absichten stimmen oft nicht mit Wirkungen überein. Mit noch so ‘guten’ Absichten kann eine bestimmte Handlung je nach Kontext für jemand anderes störend wirken. Das Problem an der ‘Faszination des Fremden’ durch weisse Menschen, ist der weisse Blick, der alles bewertet und nach dessen Bewertung sich alles richten muss: Was der weisse Blick als trendy, fancy oder wünschenswert kategorisiert, darf existieren, was er verabscheut, wird ausgelöscht oder unterdrückt. Laura Saia kritisiert in ihrem Text ‘Wenn Birken Blühen’, dass am Afro Pfingsten Festival das Fremde gefeiert wird, während die Menschen gleichzeitig von Orten wie Bern Bethlehem, Zürich Schwamendingen oder Winterthur Töss flüchten, wo Menschen leben, die einst wirklich geflüchtet sind. Oder dass Mehrsprachigkeit in der Schweiz als hochgelobtes Gut gilt, nicht aber bei den Kindern von Eingewanderten.
Kulturelle Aneignung verstärkt die koloniale Gegenwart
Das Problem der kulturellen Aneignung ist somit, dass sie koloniale Machtverhältnisse ignoriert oder sogar verstärkt. Während sich die Einheimischen von kolonisierten Regionen die Sprache der Kolonialist*innen aneignen mussten, können sich weisse Menschen freiwillig auswählen, was ihnen jetzt gerade an anderen Kulturen gefällt und was nicht. Aus historischer Perspektive waren es immer weisse Menschen, welche BIPOC etwas weggenommen und diese enteignet haben, um sich selbst zu bereichern. Wenn diese sich jetzt sogar diese Elemente aus kolonisierten Regionen aneignen, welche für die Menschen dieser Kultur zu einem Symbol des Widerstands, Stolzes und ein Ausdruck ihrer Identität geworden ist, verlieren auch diese Elemente ihre Symbolik und werden auf ihre Ästhetik reduziert. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass jahrelange Kolonisierung und Dehumanisierung bei den betroffenen Menschen zu einem Selbsthass und zu einer Negierung des Selbst führen kann; und trotzdem haben es die Menschen aus kolonisierten Räumen geschafft, ihre kulturellen Wertvorstellungen und Ausdrücke zumindest teilweise aufrechtzuerhalten und wertzuschätzen. Deren kulturellen Praktiken und Traditionen zu übernehmen und sie für die eigene Einzigartigkeit zu verwenden, verharmlost die kolonialen Geschehnisse und zeigt, wie tief die weisse Überlegenheit greift.
Wichtige Fragen, die man sich stellen muss
Fragen, die sich privilegierte weisse Menschen in Bezug auf kulturelle Aneignung stellen müssen, sind die Folgenden: Was ist die Motivation hinter dem, was ich tue? Wer profitiert davon? Ist das, was ich tue angebracht? Was ist die politische, historische und kulturelle Bedeutung des kulturellen Elementes? Könnte ich damit jemanden verletzten? Verhärte ich dadurch Vorurteile oder Stereotype anderer Ethnizitäten oder Kulturen? Auch die Frage hilft, wie man denn selbst gerne behandelt würde, wäre man in einer Minderheitsposition oder wäre man jahrhundertelang unterdrückt und entmenschlicht worden.
Dieser Text wurde in abgeänderter Form im Megafon (Ausgabe Januar 2021) publiziert:
https://www.megafon.ch/keine-fancy-zwischennutzung/?artikel=No+more+Chakra