Buchrezension: Nasser Abufarha: The Making of a Human Bomb. An Ethnography of Palestinian Resistance. Duke University Press, Durham and London, 2009.
(278. ISBN: 9780822344391)
Die bewegende Ethnographie über den palästinensischen Widerstand in Form von „menschlichen Bomben“ wurde in einer Reihe („The Cultures and Practices of Violence Series“) von Werken publiziert, welche allesamt das Thema Gewalt aus der Perspektive der Täter*innen behandeln.
Nasser Abufarha, der Autor dieses Buches, dokumentiert und analysiert die sozialen und kulturellen Lebensumstände und die Motivationen der palästinensischen Gewaltausüber*innen und fragt sich, wie diese Form von Gewalt gesellschaftlich konstruiert und performiert wird. Ihn interessieren theoretisch drei Arenen: Erstens die kulturellen „poetics“ der Gewalt in Palästina, zweitens die Natur der Staatsgewalt von Israel und drittens die nachahmende Gewalt der palästinensischen Widerstandsgruppen bzw. wie diese auf die staatliche Gewalt Israels reagieren.
Abufarha will durch eine historische und kulturelle Analyse ein holistisches Verständnis für die Märtyrertum-Operationen generieren und betont, dass nur durch das Verstehen der Gewaltentstehung die Möglichkeit bestehe, erfolgreich gegen solche Taten vorzugehen und Antworten darauf zu finden. Schon während dem Lesen der Erläuterung der Begrifflichkeiten wird klar, dass das Märtyrertum ein komplexes Phänomen ist: Während westliche Medien oft von „suicide-bombings“ im Sinne von terroristischen Handlungen sprechen, erklärt er, dass „martyrdom-operations“ oder „self-sacrifice operations“ treffendere Bezeichnungen für die Operationen sind, da für Palästinenser*innen die Opferung ein zentrales Element beschreibt. Die Operationen sind Akte der Selbstopferung mit dem Ziel des Widerstandes gegenüber der israelischen Besetzung und unterscheiden sich von anderen bewaffneten Angriffen, da sie speziell auf das öffentliche Leben der Israelis gerichtet sind (auf Busse, Cafeterias, Märkte, Nachtclubs).
Nasser Abufarha ist ein Kulturanthropologe, der in Al-Jalama nahe Jenin, Palästina, aufgewachsen ist und später an der Universität Wisconsin in den USA studierte und promovierte. Durch seinen persönlichen Hintergrund und aufgrund seines sprachlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Vorwissens war es ihm leichter als anderen Forscher*innen möglich, Zugang zu seinen Forschungssubjekten zu erlangen. Als Kind hatte er selber ähnliche Erfahrungen mit dem israelischen Militär gemacht wie die interviewten Personen, was ihm erlaubte, dass die Menschen rascher Vertrauen zu ihm aufbauten. Er hat grösstenteils in der Gegend geforscht (Jenin und dessen Umgebung), wo er selbst aufgewachsen ist. Die anthropologischen Methoden, die er zur Datenerhebung anwendete, waren divers: Während zwei Jahren (2003-2005) hat er teilnehmende Beobachtung (während der 2. Intifada, 2000-2006) und diverse Interviews (43 Interviews mit Zivilist*innen, Familienmitgliedern der Märtyrerinnen und Märtyrern, Künstlern und Anhängern von verschiedenen palästinensischen Widerstandsgruppierungen) durchgeführt und zudem diverse Kulturgüter (Berichte von 213 Operationen, diverse Zeitungsartikel, Plakate, Gedichte etc.) analysiert. Den Aufbau seiner Ethnographie gestaltete er mehrstufig im Sinne der „multi-tired ethnography“: Die Mehrstufigkeit erlaubt Forscher*innen, ein Phänomen in unterschiedlichen Sphären einer Gesellschaft anzuschauen und ist in diesem Buch schon bei Kapiteleinteilung zu erkennen. Abufarha hat sieben verschiedene gesellschaftliche Arenen ausgewählt, um herauszufinden, wie „the act of the human bomb was formulated, popularized, and integrated into everyday social life in Palestinian society“ (Abufarha 2009: 17). Dafür geht er zuerst auf die Geschichte Palästinas und auf das tägliche Zusammentreffen von Palästinenser*innen mit dem israelischen Staat ein, woraufhin er später auf die persönliche, kulturelle und soziale Bedeutungsebene der Märtyrertum-Operationen übergeht.
Der erste Schritt, um die Bedeutung der Operationen zu verstehen, ist die Kenntnis der palästinensischen Geschichte aus palästinensischer Perspektive. Die Vergangenheit Palästinas ist eine „oral history“, weil sie aus Sicht der israelischen Regierung nicht existiert und jegliche Geschichtsbücher mit dem Wort „Palästina“ verboten werden, weshalb Palästinenser*innen ihre Geschichte nur mündlich weitererzählen konnten. Abufarha geht zu Beginn auf geschichtliche Ereignisse ein, welche für Palästinenser*innen in Bezug auf ihre Wahrnehmung von Land und Heimat prägend waren. Er zeigt, wie sich das israelische Gebiet immer mehr ausgeweitet hat und Palästinenser*innen aus ihren Dörfern und Städten vertrieben wurden. Die Kenntnis der palästinensischen Geschichte sei unabdingbar, weil die gegenwärtigen Dynamiken nur durch das Verständnis der Vergangenheit verstanden und kontextualisiert werden können.
Abufarha fokussiert auf kritische geschichtliche Momente („prescriptive“ und „critical events“ nach Marshall Salins und Veena Das), welche einen grossen Einfluss hatten auf die soziale und kulturelle Transformation von Palästina. Solche Ereignisse waren zum Beispiel die Gründung Israels 1948 (Nakba = Die Katastrophe), die 1. Intifada (= Aufstand, 1987-93), der Oslo-Friedensprozess (1993-2000) und schlussendlich die 2. Intifada, die Zeit, auf die er am stärksten eingeht, da er in dieser Zeit Forschung betrieben hat. Damals haben Märtyrertum-Operationen enorm an Popularität gewonnen und beinahe alle palästinensischen Widerstandsgruppen, ob islamisch, säkular oder marxistisch, haben diese Form von Gewalt als primäre Widerstandsform angewendet. Die Gewaltform wurde immer populärer, weil die Palästinenser*innen nach dem Scheitern des Friedensprozesses gemerkt haben, dass sie nicht auf fremde Hilfe zählen können, sondern auf sich alleine gestellt sind. Als einziges Mittel, die Besetzung, Hegemonie und Demütigung der Israelis zu bekämpfen, galten bald nur noch die Märtyrertum-Operationen.
Abufarha sieht die Operationen als kulturelle Performanz (nach der Gewalttheorie von Neil Whitehead): Es geht nicht darum, aus Verzweiflung möglichst viele Menschen zu töten, wie es in undifferenzierten Berichten oft dargestellt wird, sondern spielen die Ästhetik, der Ort und die Art und Weise der Operationen eine zentrale Rolle. Die Operationen sind so ein Mittel, um etwas kulturell auszudrücken, was mit Worten nicht möglich ist. Das Ziel der Performanz des Märtyrertums ist nicht nur die Tötung der Israelis, sondern auch die Tötung der Märtyrerin bzw. des Märtyrers. Die Selbstopferung („self-sacrifice“) ist ein bedeutsamer Teil, denn das Opfern für Palästina steht für Verwurzelung, Identität und Unabhängigkeit; all dies sind Dinge, die den Palästinenser*innen bis zum heutigen Tag abgesprochen werden. Die Performanz ist also zweigeteilt, wobei sich der zweite Teil, die Tötung der israelischen Zivilist*innen, auf die Destabilisierung der sozialen und moralischen Ordnung Israels bezieht.
Erst nach der Durchführung einer Operation geschieht die Bedeutungsgebung („meaning making“) durch verschiedene Akteur*innen. Widerstandsgruppierungen, Zivilist*innen und Künstler*innen produzieren zahlreiche Gedichte, Lieder, Theater, Poster und Essays und es finden Kundgebungen statt, bei welchen die Operation und die Gewaltausübenden gefeiert und geehrt werden. Letztere werden als Held*innen dargestellt und erhalten den Märtyrer*innen-Status.
Die Themen der Bedeutungsgebung sind die tägliche Gewalt durch die Israelis, das soziale Leiden, die Deplatzierung, die konstante Angst, die kulturelle Bedeutung des Märtyrertums, Freiheit und Harmonie, um hier nur einige zu nennen. Diese Form von Gewalt hat nach Abufarha eine zentrale Rolle in der Kultur Palästinas. All die zahlreichen kulturellen Bedeutungen, die mit den Operationen in Verbindung gebracht werden, bilden die sogenannten „poetics of martyrdom“, was beschreibt, wie Zeichen, Symbole und Rituale über eine bestimmte Zeit performativ genutzt werden. Die „poetics“ der Märtyrertum-Operationen bezeichnen den Prozess der Bedeutungskonstruktion der Gewalt über einen Zeitraum. Zu ihnen gehört die Bedeutungskonstruktion von der Planung der Operation, über die Durchführung (Performanz) bis zu deren Repräsentation nach der Durchführung. Die „poetics“ der Operationen werden zwischen den ontologischen (Seins-Zustand) und kosmologischen (Soll-Zustand) Lebensbedingungen konstruiert. Dabei beschreiben erstere die realen Lebensbedingungen wie die Existenz von Checkpoints, Identitätskontrollen, Isolation, Unfreiheit und Demütigung, wobei letzteres umschreibt, wie sich die Palästinenser*innen den Idealzustand vorstellen. Durch die Operationen wird der Wunsch nach Einheit, Freiheit, Unabhängigkeit und Verwurzelung mit dem Heimatland geäussert. Dazu schreibt Abufarha folgendes: “I argue that the practice of sacrificing Palestinian bodies and applying violence against the ‘enemy’ in the same act mediates cultural ideas of uprooting and rootedness, fragmentation and unity, confinement and freedom, domination and independence. This social processes are mediated through the cultural conceptions generated in the poetics of the performance that create unconfined life, unsegmented peoplehood, and unfragmented Palestine in the Palestinian cultural imaginary. This free and united life in the cultural imaginary is created in contrast to Palestinians ontological conditions of fragmentation, confinement, displacement, and encapsulation” (Abufarha 2009: 3).
Mit dieser Aussage zeigt Abufarha, dass Gewalt immer in kulturelle und soziale Diskurse eingebettet ist und der Tod im Sinne einer Märtyrertum-Operation ein komplexer kultureller Ausdruck ist. Abufarha trägt somit erfolgreich zur Erkenntnis bei, dass solche Handlungen nicht auf die Pathologie einer individuellen Person zurückzuführen sind, sondern dass sie einerseits dazu dienen, mit dem Feind zu kommunizieren, und andererseits kulturelle Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und globalen Akteur*innen zu schaffen (Bezug auf David Richess). Abufarha gelingt es durch das Aufzeigen der verschiedenen Perspektiven und durch die detailreiche Beschreibung der Repräsentation der Operationen, wie diese Gewaltform eine zentrale Rolle im Leben der Menschen einnimmt. Zudem wird durch seine Ethnographie verständlich, warum Gewalt für Jugendliche so populär geworden ist, dass Widerstandsgruppierungen mehr Anfragen für Märtyrertum-Operationen bekommen, als dass sie die Ressourcen für deren Organisation und Finanzierung haben.
Um zu zeigen, wie Gewalt kulturell und gesellschaftlich verständlich wird, hat Abufarha die Anthropologie der Erfahrung (nach Veena Das) eingesetzt. Dies hat er meiner Meinung nach vor allem im vierten Kapitel erfolgreich umgesetzt, wo er beschreibt, wie sich Israelis und Palästinenser*innen täglich begegnen und wie sich dieses Aufeinandertreffen auf die Lebensbedingungen letzterer auswirkt. Spannend im Falle dieser Ethnographie ist hinsichtlich der Anthropologie der Erfahrung, dass er seine eigenen Erfahrungen einbringen konnte, indem er an diversen Stellen Kindheitserinnerungen beschreibt wie zum Beispiel erlebte Momente des Zusammentreffens mit dem israelischen Militär. Diese Abschnitte machen die Ethnographie noch persönlicher und lassen einen mitfühlen, wie traumatisch es sein muss, unter solchen Umständen aufzuwachsen.
Im Vergleich mit Veena Das’ Verständnis von Anthropologie frage ich mich, ob sie ihn wohl kritisieren würde für seine Gegenüberstellung der Palästinenser*innen mit dem israelischen Militär bzw. Staat. Das plädiert dafür, nicht in binären Gegensätze zu denken im Sinne von Staat vs. Bürger*innen zum Beispiel, da Verstrickungen zwischen Akteur*innen viel komplexer sein können. Abufarha hingegen baut viele Argumentationen auf dem Aufeinandertreffen von Palästinenser*innen und israelischem Militär auf und stellt diese zwei „Parteien“ gegeneinander, was man als „unauflösbare“ binäre Gegensätze interpretieren könnte. Es stellt sich die Frage, ob er diese Verstrickungen vernachlässigt hatte oder ob es in diesem regionalen Kontext unausweichlich ist, binär zu denken, da die räumliche Trennung so stark ist, dass Verbindungen zwischen den „Parteien“ kaum existieren können.
Die Beschreibung der alltäglichen Lebensbedingungen ist meiner Meinung nach sehr gelungen, jedoch denke ich, die Begrifflichkeiten sind sehr kompliziert umschrieben. Man braucht einige Zeit, um zu verstehen, was er genau mit ontologischen und kosmologischen Lebensbedingungen meint und das Verständnis zentraler Themen könnte teilweise schwierig werden. Auch den Begriff „poetics of violence“ bzw. „poetics of matyrdom“ habe ich zu Beginn nicht wirklich verstanden und erst durch eine genaue und tiefgründige Auseinandersetzung mit der Thematik und durch die Lektüre der Texte von Neil Whitehead wurde mir dies klar. Abufarha führt meiner Meinung nach diesen Begriff theoretisch zu wenig ein, was bewirkt, dass man den Sinn der Anwendung dieses Begriffes nicht wirklich nachvollziehen kann.
Wenn ich von der Kritik an der Komplexität einiger Begriffe spreche, denke ich vor allem daran, dass Abufarha von seiner doppelten Verantwortung als palästinensischer Anthropologe spricht: Nebst der Verantwortung gegenüber der Wissenschaft stehe er auch von der Seite seiner Forschungssubjekten unter Druck und werde von ihnen geprüft. Ich bin mir sicher, dass er dieser Verantwortung in beiden Belangen nachkommt, jedoch zweifle ich daran, dass sich das Buch für Menschen, die fachlich kein Vorwissen haben, theoretisch erschließen lässt.
Den letzten Kritikpunkt möchte ich jedoch relativieren, weil ich denke, dass für jede*n andere Teile des Buches zugänglich sind. Gerade diese Teile, in denen Abufarha persönliche Erfahrungen preisgibt („Anthropology from within“) und er zum Beispiel die Familien und das Leben der Märtyrer*innen vorstellt, sind nachvollziehbar und verständlich. Ich denke schlussendlich besteht immer noch die Gefahr, dass das Buch ausschließlich von Fachleuten gelesen und diskutiert wird, obwohl ich meinte, es sei ein Buch, welches jede*n interessieren könnte und hilft, den Konflikt konkret und detailliert verstehen zu wollen.
Was ich als sehr wertvoll empfinde an dieser Ethnographie, ist, dass Abufarha – auch wenn nur in einem kurzen Abschnitt – einen Vorschlag macht, wie die Situation verbessert werden könnte, was mir manchmal in anthropologischen Werken etwas fehlt. Die Anthropologie stellt eine deskriptive Wissenschaft dar, was auch bei Abufarha der Fall ist; er leistet jedoch zumindest einen kleinen normativen Beitrag zu einer möglichen Konfliktberuhigung und schreibt auf den letzten Seiten des Buches: „The most promising approach for reducing the violence is to move the political process in directions that would open spaces for alternative exchanges between Palestinians and Israelis, restore access of Palestine to their landscape, break down physical barriers, and afford Palestinians space in which to experience their rootedness“ (Abufarha 2009: 238/239). Leider wurden solche Vorschläge und Forderungen einer Annäherung bis heute nicht umgesetzt und die Lebensbedingungen sind immer noch gleich ausweglos und demütigend wie zur Zeit, in der Abufarha geforscht hatte.
Diese Rezension wurde am Ende des Kurses "Aktuelle Debatten der Sozialanthropologie" verfasst im Fach Sozialanthropologie, Universität Bern.