«Islamophopie», «Muslimophobie» oder «antimuslimischer Rassismus»? - Eine Diskussion über die Begrifflichkeiten der Feindlichkeiten gegenüber Muslim*innen in Europa
Verfasst im Rahmen der Sachbereichs- und Regionalübung 'Aktuelle Ansätze in der Rassismusforschung und zugehörige Forschungsfelder in der Sozialanthropologie', Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern
1. Einleitung
“Tous les migrants ont une difficulté de trouver une place de travail. Si c’est avec ou sans foulard, c’est la même chose. On doit toujours justifier. On a des hommes, alors les hommes ils n’ont pas de foulard. Il s’appelle Muhammad, on va toujours poser des questions: «Tu es musulman? Tu fais le Ramadan?». Alors là pourquoi vous n'acceptez pas? C’est une question par rapport à toute une religion qui est mise dans une accusation, et pas simplement que la femme".
Khadija ist eine Frau um die 50 Jahre alt und war vor mehr als 20 Jahren aus Marokko mit ihrem tunesischen Ehemann nach Biel (Schweiz) migriert. Sie ist Juristin und Aktivistin und engagiert sich für Schwierigkeiten von Muslim*innen in der Schweiz, insbesondere für Frauen, die Kopftuch tragen und für die Prävention vor Radikalisierung von Jugendlichen.
Wir haben im Rahmen eines Forschungsprojektes ein Interview mit ihr zum Thema Kopftuch geführt. Uns interessierte, was muslimische Frauen in ihrem Alltag in der Schweiz erleben (sei es mit oder ohne Kopftuch) und wie mit schwierigen Situationen durch Interaktionen mit nicht-muslimischen Menschen umgehen. Khadija hat in ihren Ausführungen zwar betont, dass Frauen mit Kopftuch in diversen Bereichen des öffentlichen Lebens (z. B. Arbeitsplatz) speziell benachteiligt werden, dass aber nicht nur Frauen betroffen seien, sondern dass eine „ganze Religion“ angeklagt werde. Sie sprach von Feindlichkeiten aufgrund des Namens und meinte, es würden direkt Fragen über die Religiosität gestellt, wenn ein Mann zum Beispiel den Namen «Muhammad» trage (siehe Zitat oben).
Auch die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKG) hält fest, dass Diskriminierungen von Muslim*innen in der Schweiz regelmässig vorkommen und im Alltag spürbar werden: Oft werden sie beispielsweise aufgrund des Namens, der Religionszugehörigkeit oder eines sichtbaren Zeichens dieser Religionszugehörigkeit, beispielsweise des Kopftuchs, nicht eingestellt oder erhalten keine Lehrstelle. Das EKR schreibt: “Vorurteile und Feindseligkeiten gegenüber muslimischen Gemeinden sind in allen europäischen Mitgliedstaaten weit verbreitet und haben in der Vergangenheit häufig zu Diskriminierungen und ihrer Ausgrenzung von sozioökonomischen Aktivitäten geführt” (EKR 2006: 13). Solche Formen der Diskriminierung bezeichnet das EKR als «kulturellen Rassismus» (2006: 38-39).
Seit den Geschehnissen von 9/11 hat das Thema der Pauschalisierung bzw. der Homogenisierung von ethnisch und kulturell heterogenen Migrant*innen und in diesem Fall Muslim*innen neue Dimensionen angenommen. In den heutigen Darstellungen wird ein Bild des „Orients“ als Zusammenspiel von Schurkenstaaten, Terrorist*innen und anpassungsunfähigen, muslimischen Migrant*innen vermittelt (Dietze et al. 2009: 11-12). Wissenschaftler*innen bezeichnen diese Angst vor dem Islam , die immer mehr nicht-muslimische Menschen in europäischen Regionen empfinden, als «Islamophobie».
Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass innerhalb der Debatten um Muslim*innen und den Islam in der Schweiz und in anderen europäischen Regionen unterschiedliche Bezeichnungen für die Ablehnung von muslimischen Menschen und der islamischen Religion verwendet werden. Bei den Begrifflichkeiten der Benachteiligung von Muslim*innen sind sich Wissenschaftler*innen sowie mediale und politische Akteur*innen uneinig darüber, ob es sich nun um „Muslimophobia, anti-Muslimism, anti-Muslim racism, anti-Muslim prejudice and anti-Muslim hate“ (Cheng 2015: 563) oder um «Islamophobie» handelt. Dies sind unterschiedliche theoretische Konzepte, mit denen negative Haltungen und Stereotypisierungen gegenüber Muslim*innen oder dem Islam gemeint sind (Shooman 2014: 33). In diesem Essay fokussiere ich mich speziell auf die Begriffe «Islamophobie», «Muslimophobie» und auf den „antimuslimischen Rassismus“ (Shooman 2014: 30) und gehe den Fragen nach, was diese Begrifflichkeiten beinhalten bzw. gegen wen die Feindlichkeiten gerichtet sind, wie sich die Formen der Feindlichkeiten voneinander unterscheiden und in welchem Kontext welcher Begriff verwendet wird.
Wichtig ist das Verständnis der Begrifflichkeiten deshalb, weil die Etikettierung von muslimischen Migrant*innen in der Schweiz meist negativ ausfällt (Kaya 2014: 119). Die negativen Zuschreibungen ziehen praktische und reale Folgen wie Ausgrenzungen, Diskriminierung und Stigmatisierung der Menschen, die einer Minderheit angehören - in diesem Fall der muslimischen Gemeinschaft - nach sich. Die Kenntnis der Begrifflichkeiten erscheint mir als wichtiger erster Schritt, um ein Verständnis für das Thema Muslimfeindlichkeit zu generieren, damit eine Grundlage entstehen kann, um die Diskriminierung gegenüber der muslimischen Minderheit aktiv bekämpfen zu können.
2. Diskussion
Als Einstieg soll gezeigt werden, wie sich die Wahrnehmung von Muslim*innen in europäischen Gesellschaften geschichtlich verändert hat. Für diese Analyse beziehe ich mich auf Ausführungen von Yasemin Shooman, einer deutschen Historikerin, welche in ihrem Buch „...weil ihre Kultur so ist: Narrative des antimuslimischen Rassismus“ die Wahrnehmungsverschiebung von Muslim*innen in Europa vom „äusseren Feind zum anderen im Inneren“ (Shooman 2014: 35) beschreibt. Nach Shooman war die Wahrnehmung von Muslim*innen in Europa nicht immer so, wie wir sie heute in Debatten wahrnehmen können.
Allerdings wurde schon im Mittelalter eine Identitätsdifferenz der Christen gegenüber den „Sarazenen“, den „Ismaeliten“ oder auch „Hagarener“ - wie damals Muslim*innen genannt wurden - vor allem entlang religiöser Identität betont (2014: 41). Damals galten jedoch nicht nur Muslimen als Gegenspieler der Christen, sondern alle, die den christlichen Glauben noch nicht angenommen hatten, wie zum Beispiel die Häretiker. Zu dieser Figur des „Antichristen“ gehörten auch die Muslime – wobei Muhammad als Lügner und Epileptiker bezeichnet wurde (2014: 41). Später wurden Muslime während den Eroberungszügen der Osmanen bis nach Konstantinopel vorwiegend als „Türken“ bezeichnet und von nun galten Muslime in Europa als starke militärische Rivalen (2014: 43).
Eine nächste Wahrnehmungsverschiebung der Muslim*innen in westlichen Regionen zeigte sich in der Zeit des Kolonialismus: Edward Said führte im Zuge des Postkolonialismus den Begriff «Orientalismus» ein und damit die Kritik an westlichen Intellektuellen, welche eine hegemoniale und eurozentrische Sichtweise auf den als unterlegen und zurückgeblieben dargestellten „Orient“ produzierten. Sein Buch “Orientalism” erschien im Jahre 1978 und beinhaltet eine literaturhistorische Auseinandersetzung mit der Darstellung des “Orients” im 19. und 20. Jahrhundert (Wiedemann 2012: 3). Für den Orientalismus typisch ist die Entstehung eines kolonialrassistischen Argumentationsmusters, worin die Körperlichkeit der trägen, sinnlichen und ungebildeten „Mahomedaner“ betont wurde (Shooman 2014: 44). Der Begriff “Orient” wurde von westlichen Wissenschaftler*innen konstruiert, um eine heterogene Region zu vereinheitlichen und unter einem Begriff fassen zu können, obwohl es länderspezifisch sehr viele unterschiedliche Ausprägungen von islamischer Religion und Tradition gibt. Es ging Said um die akademische Produktion der „Andersheit“ des “Orients”, welcher in westlichen Darstellungen als Gegenspieler des „Okzidents“ dargestellt wurde (Wiedemann 2012: 2).
Es gab eine Zeit, wo Muslime in Europa zu den „anderen“ Einwanderern wie den Portugiesen und Italienern gezählt haben und mit ihnen zusammen als „Südländer“ bezeichnet wurden (Shooman 2014: 48). Doch schon in den frühen 1980-er Jahren kamen vermehrt Diskussionen über „kulturnahe“ und „kulturferne“ Ausländer auf: Europäische Einwanderer wurden zum europäischen „Wir“ gezählt, wobei außereuropäische Einwanderer als „Allzufremde“ bezeichnet wurden (2014: 49). Man sprach von verschiedenen „Kulturkreisen“ – kulturelle Einheiten, welche in sich geschlossen sind – von welchen einige davon nicht mit dem „westlichen Kulturkreis“ kompatibel gewesen seien (2014: 51). „Ausländerprobleme“ wurden in diesen Jahren zum Beispiel in Deutschland vor allem als „Türkenprobleme“ deklariert. Man führte gesellschaftliche Konflikte auf eine kulturelle Distanz zurück und darauf, dass „Türken“ unintegrierbar seien, weil sie aus einem zu fremden Kulturkreis stammten (2014: 50).
Die nächste Wahrnehmungsverschiebung von Muslim*innen in Europa bildet der Neo-Orientalismus, welcher sich seit den 1990-er Jahren und speziell verstärkt seit 9/11 im Jahre 2001 festmachen lässt (Kerboua 2016: 21). 9/11 war der Startschuss in die Ära des Krieges gegen den Terror und in eine bis heute andauernde Zeit, in der ein Gefühl der Angst und Bedrohung vor allem herrscht, was mit dem Islam oder mit Muslim*innen zu tun hat (2016: 21). Das Bild des zurückgebliebenen, exotischen “Orients” wurde nun ersetzt durch einen bedrohlichen und gewalttätigen “Orient”, welcher als prototypischer Gegenspieler der westlichen Demokratie angesehen wird: “Muslim countries have the most terrorists and the fewest democracies in the world” (Tuastad 2003: 593). Noch heute befinden wir uns in der Zeit des Neo-Orientalismus, wo das Religiöse immer mehr betont wird: Parteien aus verschiedenen Ländern nehmen an internationalen Anti-Islamisierungskongressen Kongressen teil, um das jüdisch-christliche Abendland vor den „muslimischen Invasor*innen“ zu beschützen (Shooman 2014: 52). Dabei nehmen die Akteur*innen Bezug auf historisch tradierte Elemente und schüren den Eindruck, als wäre der Islam schon immer das Feindbild des Westens gewesen, vor dem man sich schützen muss. An diesen Treffen lassen sich Slogans wie „Islamisierung stoppen“ (Shooman 2014: 53) oder „Abendland in Christenhand“ (Shooman 2014: 52) finden. Solche und ähnliche Aussagen werden immer wieder von rechtspopulistischen, neokonservativen, pro-israelischen Kreisen unterstützt und verbreitet, was das Phänomen der Islamophobie verstärkt (Kerboua 2016: 22).
Islamophobie ist ein Begriff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch französische Autoren geprägt wurde (Shooman 2014: 33). Nach Salim Kerboua sind sich Wissenschaftler*innen heute unklar darüber, wie das Phänomen definiert werden soll. Sein Versuch lautet wie folgt: “Islamophobia is the irrational fear of the Muslim faith. By extension, it is then the fear of the people who practice that religion. That animosity can be expressed through different affects: simple apprehension, fear, rejection, contempt, and hatred of Islam and Muslims” (Kerboua 2016: 23). Wenn wir von Islamophobie sprechen im Sinne von Kerboua, beziehen wir uns auf die Angst vor dem muslimischen Glauben und dadurch vor Personen, die diese Religion ausüben. Auch Jennifer Cheng fragt sich in ihrem Artikel „Islamophobia, Muslimophobia or racism? Parliamentary discourses on Islam and Muslims in debates on the minaret ban in Switzerland“, wogegen sich die heutigen Feindlichkeiten richten: Richten sie sich gegen den Islam - die Religion - oder gegen die Muslim*innen - die Menschen (Cheng 2015: 564)? Um das Phänomen zu definieren, zieht sie Ausführungen von Stolz herbei, welcher Islamophobie als Ablehnung des Islams, muslimischer Gruppen und Individuen sieht (Stolz zitiert nach Cheng 2015: 564).
Ein wichtiger Bestandteil des Begriffs ist der zweite Teil des Wortes, die „Phobie“. Dieses Suffix wird hier wie beim Begriff „Homophobie“ verwendet und beschreibt Vorurteile gegenüber einer bestimmten Form von Menschen. Mit Phobie ist in diesem Kontext nicht eine klinische, psychologische Krankheit gemeint, sondern eine Angst, die verschiedene Elemente beinhalten kann: kognitive, emotionale, aber auch handlungs-orientierte Elemente, was bedeutet, dass dem Islam in islamophoben Diskursen eine Handlungsmacht zugeschrieben wird (Gardell zitiert nach Cheng 2015: 564). Der Islam wird in dieser Wahrnehmung als etwas dargestellt, das aktive diskriminierende Handlungen nach sich ziehen kann. Zu kritisieren ist am Konzept der Islamophobie, wie es Stolz und Kerboua verstehen, dass es im Grunde genommen die Ablehnung eines Glaubens bzw. einer Religion beschreibt, oft aber auf Menschen übertragen wird, welche die Religion ausüben – was genau genommen dann nicht mehr Islamophobie beschreibt, sondern Muslimophobie. Auch Shooman kritisiert den Begriff Islamophobie in ihrem Text, denn Islamophobie bezeichnet eine ideologische (und keine praktische) Islamfeindlichkeit, bei der die Religion in den Mittelpunkt rückt, wobei sie betont, dass dieser Begriff nicht haltbar ist, weil es immer einen Zusammenhang zwischen der Religion und den Menschen, die diese Religion ausleben, gibt (Shooman 2014: 33). Der Begriff führt so zu Verwirrung, da bei der Benachteiligung von Muslim*innen nicht die Religion gemeint sei, sondern der Mensch (2014: 31). Sie beschreibt im folgenden Zitat, wie leicht Kritik am Islam die eigentlich beabsichtigte Ausgrenzung von den muslimischen Menschen zu verdecken versucht: „Die Analyse der Rhetorik auf antimuslimischen Webseiten verdeutlicht, dass dort vielfach vorgeblich der Islam angegriffen wird, tatsächlich aber die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft ausgegrenzt werden sollten“ (Shooman 2014: 32).
Wenn Islamophobie also Angst vor und Ablehnung des islamischen Glaubens und dessen Grundsätzen bedeutet, dann sind andere Begriffe prägnanter, wenn von der aktiven Diskriminierung und von den alltäglichen Problematiken von Muslim*innen in europäischem Kontext gesprochen wird. Cheng zieht Erdenir herbei, um zu zeigen, dass muslimische Menschen Problemen ausgesetzt sind, die sozialer und kultureller und nicht primär religiöser Natur sind und deshalb eher von «Muslimophobie» gesprochen werden soll, da vorwiegend antimuslimische und nicht antiislamische Gefühle vorherrschend sind und Muslim*innen aufgrund von Kultur, Lebensstil oder äusserem Erscheinungsbild angegriffen werden (Erdenir zitiert nach Cheng 2015: 564). Cheng führt aus, dass der Begriff Muslimophobie den der Islamophobie nicht ersetzen muss, da in manchen Kontexten beide Formen der Ablehnung ko-existieren. Dabei kann Islamophobie nie alleine vorkommen, da immer auch die Menschen, die die Religion ausüben, adressiert und abgelehnt werden (Cheng 2015: 581). Der Begriff Muslimophobie ist sinnvoll, wenn gezeigt werden soll, inwiefern Feindlichkeiten gegen Muslim*innen rassistischer Natur sind, denn gegenüber einer Religion rassistisch zu sein, ist nicht möglich (2015: 567). Muslimophobie hat oft rassistische Eigenschaften, vor allem wenn biologische Charakteristika mit kulturellen verbunden werden und Kleidung oder Lebensstile essentialisiert und rassifiziert werden (2015: 567). Auf die Rassifizierung von Muslim*innen wird später noch genauer eingegangen.
Muslimophobie wird dem „neuen“ Rassismus zugeordnet, welcher von manchen Autor*innen «kultureller» oder «kulturalistischer Rassismus» genannt wird (2015: 564). Meistens wird vom kulturellen Rassismus gesprochen, wobei Reisigl und Wodak beharrlich vom kulturalistischen Rassismus sprechen, weil sie meinen, auch der alte biologistische Rassismus sei ein kultureller Rassismus gewesen, weil Rassismus immer schon ein kulturelles Phänomen gewesen sei (Reisigl und Wodak zitiert nach Cheng 2015: 565). Da aber Shooman den antimuslimischen Rassismus als kulturellen Rassismus sieht, werde ich mich in den folgenden Ausführungen auf diesen beziehen.
Beim „alten“ biologischen Rassismus wurden Menschen in höhere und niedere „Rassen“ eingeteilt und als „ungleich“ eingestuft (Cheng 2015: 565). Die Definitionsmacht, wer in welche Stufe eingeteilt wird, lag typischerweise bei den Menschen, welche Menschen einer anderen „Stufe“ beherrschen wollten. Beim „neuen“ „differentialistischen“ Rassismus geht es nicht um Hierarchien von verschiedenen „Rassen“, sondern um kulturelle Differenzen, welche nicht zu überwinden scheinen (2015: 565). Dabei entsteht eine Dichotomie zwischen der „eigenen“ und der „anderen“ Kultur, welche als zwei abgetrennte, isolierte Einheiten angesehen werden. Argumentationsmuster der kulturellen Distanz und „Unintegrierbarkeit“ erscheinen, weil die jeweils andere Kultur als zu „fremd“ dargestellt wird (Sökefeld zitiert nach Shooman 2014: 50). Obwohl die zwei Formen von Rassismen in der Literatur auseinandergehalten werden, gibt es Überschneidungen und die Abtrennung ist nicht so strikt zu handhaben. Shooman zum Beispiel betont, dass das Konstrukt der „Rasse“ heute implizit immer noch wirkt und an kulturelle und religiöse Zuschreibungen gebunden ist. Die rassistische Art und Weise des Handelns und Denkens zu Zeiten des zweiten Weltkriegs ist nicht verschwunden, denn Menschen werden noch immer in Kategorien mit unterschiedlichen Wertungen geteilt (2014: 55).
Innerhalb des kulturalistisch argumentierenden Rassismus herrscht ein deterministischer Kultur- und Religionsbegriff vor: Allen Menschen einer bestimmten „Kultur“ werden dieselben Merkmale zugeschrieben, sodass ihr soziales Verhalten kulturell begründet wird. Individuelle Charakteristika werden den Menschen abgesprochen, da alles auf die Gruppenzugehörigkeit zurückgeführt wird (2014: 59). Samuel Huntington sprach vom „Kampf der Kulturen“, in welchem sich nicht mehr „Rassen“ bekämpfen, sondern in sich geschlossene Kulturkreise, wobei deren elementarstes Merkmal die Religion sei (2014: 56). Shooman nennt dies ein „Rassismus ohne Rassen“ (Shooman 2014: 58), wobei sich der biologistisch argumentierende Rassismus zu einem Kulturrassismus wandelte (2014: 58). Ein Beispiel zur Veranschaulichung ist der Bestseller „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Leben auf Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin, worin er über Einwanderung, Muslime, Intelligenz und über die demographische Bedrohung Deutschlands schreibt (2014: 54). Er wurde wegen seinen Aussagen oft dem Rassismus beschuldigt, worauf er erwiderte, er sei kein Rassist, da er ja nur mit dem Merkmal der Kultur argumentiere (2014: 55).
Sarrazin will damit rechtfertigen, dass negative Vorurteile über Menschen, solange nicht mit „Rasse“ argumentiert wird, legitim sind, da es sie so nicht als Einzelpersonen diskriminieren würde. Jedoch ist die Rassifizierung von Menschen auch dem kulturellen Rassismus inhärent, was von Shooman und Cheng bestätigt wird. Die Rassifizierung („racialisation“) beschreibt einen Prozess des ständigen Machens von jemandem zu etwas beziehungsweise dass eine Menschengruppe zu einer „Rasse“ gemacht wird, auch wenn sie explizit nicht so benannt wird. Auch Shooman spricht wie gesagt von Rassifizierung in Bezug auf den antimuslimischen Rassismus: Nach ihr beschreibt Rassifizierung den Prozess, bei dem Muslim*innen zu einer quasi natürlichen Gruppe gemacht und „rassifiziert“ werden, was bedeutet, dass „sie aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus unabhängig von einem individuellen Glaubensbekenntnis als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binärer Anordnung zu weißen christlichen/atheistischen Deutschen bzw. Europäern konstituiert und mit kollektiven Zuschreibungen versehen werden; es wird ein Wissen über sie und ihr Wesen als Gruppe erzeugt, und sie gelten anhand verschiedener Merkmale als «identifizierbar»” (Shooman 2014: 64).
Wichtig ist der Prozess, bei dem sie zu einer „quasi natürlichen Gruppe“ gemacht werden und somit eine Naturalisierung vollzogen wird: Es wird eine „Otherness“ der Muslim*innen konstruiert, welche immer im Gegensatz zu „europäischen“ oder „weißen“ Menschen stehen (Moodod zitiert nach Cheng 2015: 566). So werden bei Muslim*innen oft kulturelle Merkmale rassifiziert: Ihr Verhalten wird direkt aus Koranstellen abgeleitet und andere Teile ihrer Identität werden ihnen abgesprochen. Zudem wird die muslimische Identität an äußerlichen Merkmalen wie Bart, Kleidung oder Aussehen festgemacht, was zeigt, wie eng verknüpft Kultur, Ethnizität und Religion im heutigen Rassismus sind (2014: 64). Die Rassifizierung ist auch für Dunn ein wichtiges Merkmal des alten und des neuen Rassismus: Kulturelle Hierarchien werden aufrechterhalten und man vertraut in physische Erscheinungen für die Wahl der „Opfer“ (Dunn zitiert nach Cheng 2015: 565). Bei Muslim*innen passiert diese Identifizierung oft über Kleidung wie zum Beispiel über das Kopftuch, was wir auch in einem Experiment herausgefunden haben, als wir eine Busfahrt gemacht haben mit Niusha, welche einmal ohne und einmal mit Kopftuch im Bus gesessen ist. Wir versuchten, die Haltungen der anderen Passagiere zu beobachten und stellten fest, dass niemand in ihr Viererabteil sitzen wollte, als sie den Hijab trug, wobei verschiedene Menschen, als sie den Hijab nicht trug, keine Sekunde zögerten, sich zu ihr zu gesellen. Die äußerlichen Merkmale werden bei Muslim*innen oftmals mit Terrorismus, radikalem Islam, sexueller Sklaverei, Drogenhandel oder Rückständigkeit verbunden (Amin zitiert nach Cheng 2015: 566). Durch den Prozess der Rassifizierung geschieht im kulturellen Rassismus das gleiche wie beim biologischen Rassismus, nur nicht explizit: Glaube wird als etwas gesehen, das von Geburt an vorbestimmt ist und über Äußerlichkeiten bestimmt werden kann und wirkt somit wie der frühere „Rassenbegriff“ (Kundnani zitiert nach Shooman 2014: 66).
Die Rassifizierung ist auch ein Bestandteil des antimuslimischen Rassismus, welcher von Shooman als kultureller Rassismus definiert wird, da sich diese Form von Rassismus vor allem auf ethnische, kulturelle und religiöse Merkmale bezieht (2014: 58). Shooman definiert den antimuslimischen Rassismus wie folgt: „[...]ein Rassismus, der in erster Linie Bezug auf die Merkmale Kultur und Religion nimmt, sich aber zuweilen auch mit biologistischen Argumentationsweisen vermischt, wie die Vorstellung einer demografischen Bedrohung durch Musliminnen und Muslime illustriert“ (Shooman 2014: 30). Das Zitat zeigt, dass auch beim kulturellen Rassismus biologistische Argumentationen verwendet werden wie zum Beispiel wenn von der Gefährdung der „westlichen Kultur“ durch überdurchschnittliche Vermehrung der Muslim*innen gesprochen wird (Shooman 2014: 60).
3. Schlussfolgerungen
Die Begriffe zur Bezeichnung der Feindlichkeiten gegenüber Muslim*innen haben sich im Laufe der Zeit verändert. Der Begriff, der bis heute am meisten verwendet wurde, ist Islamophobie, wobei dessen Anwendung heute zunehmend kritisiert wird, da er für Verwirrung sorgt. Im Grunde genommen beinhaltet er die Ablehnung von oder Vorurteile gegenüber einer Glaubensrichtung und deren Werten, wird jedoch oft mit der Ablehnung dieser Menschen, die den islamischen Glauben ausleben, verwechselt. Zudem ist der Begriff deshalb kritisierbar - wie wir auch im Blockkurs diskutiert haben - weil er die Opferrolle betont und nicht die Täterrolle. Durch das Suffix der „–phobie“ wird der Eindruck geschürt, als sei die Person mit islamophobem Gedankengut krank und müsse bemitleidet werden. So wird seine Art und Weise des Denkens eher legitimiert als kritisiert.
Der Begriff der Muslimophobie macht insofern mehr Sinn, weil meistens die Menschen gemeint sind und nicht die Religion, die kritisiert wird. Jedoch ist auch hier wieder das Suffix „-phobie“ angehängt, was dieselben Problematiken mit sich bringt wie beim Begriff Islamophobie. Mir scheint deshalb der Begriff des antimuslimischen Rassismus insofern treffend, weil er die aktive Täter*innenrolle in den Fokus stellt und die Prozesshaftigkeit mit dem Begriff der Rassifizierung betont. Denn wie ich versuchte zu zeigen, sind historische Veränderungen und Prozesse ausschlaggebend, wie sich Wahrnehmungen von Menschen verändern. Die Begriffe Islamophobie und Muslimophobie beinhalten diese Prozesshaftigkeit nicht und sind meiner Meinung nach deshalb auch nicht wirklich brauchbar, wenn wir über aktive diskriminierende Strukturen und Handlungen schreiben und diskutieren.
Im Bezug auf die verschiedenen Formen von Rassismus lässt sich heute sagen, dass Rassismus nicht mehr nur dort zu finden ist, wo er auf biologistische Merkmale rekurriert, sondern viel implizierter wirkt. Der gegenwärtige kulturelle Rassismus bezieht sich mehrheitlich auf kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede, was durch das Beispiel des antimuslimischen Rassismus verdeutlicht wurde, wo diese verschiedenen Kategorien konvergieren. Das Beispiel zeigt zudem, dass der Begriff der Kultur und ihm inhärent der Begriff der Religion im heutigen neorassistischen Weltbild eine ähnliche Funktionsweise einnimmt, wie früher der biologistische „Rassenbegriff“. Dies ist meiner Meinung nach besonders besorgniserregend, weil das Konzept der Kultur so als Deckmantel dient, um rassistische Denkweisen verdecken zu können. Oftmals wird der Begriff Kultur zu sorglos und verallgemeinernd eingesetzt, während sich niemand einig ist, was er beinhaltet. Noch ist der Begriff zwar eher neutral konnotiert, was sich jedoch schnell ändert, sobald wertend über „andere“ Kulturen gesprochen wird.
Durch die Diskurse in politischen, wissenschaftlichen und massenmedialen Debatten entsteht ein sogenannter “Culture Talk”, welcher einen essentialistischen und kulturalistischen Kulturbegriff reproduziert und das “Eigene” und das “Andere” zu unüberwindbaren Kategorien macht (Dietze 2009: 12). Während dem Schreiben dieses Essays ist mir missfallen, dass diese Kategorien so statisch sind und bei der Analyse der Feindlichkeiten gegenüber Muslim*innen immer wieder das gleiche Phänomen wie in den orientalistischen Diskursen auftritt: Der Islam und Muslim*innen werden ständig als binär zum und inkompatibel mit dem Christentum dargestellt. Diese Dichotomie schien mir dabei unauflösbar, da sie über Jahre in gesellschaftlichen Diskursen bereits so stark etabliert wurde.
Ich möchte hinsichtlich der ständigen Konstruktion und Betonung des „Eigenen“ und des „Anderen“ kurz auf die Idee von Lila Abu-Lughod eingehen, da mich dies in letzter Zeit sehr zum Denken anregte. Sie plädiert in ihrem Text „Writing against Culture“, welcher im Jahre 1991 erschienen ist, für das Schreiben gegen Kultur. Dabei kritisiert sie den Fokus der Anthropolog*innen auf Kultur, weil dies Homogenisierung und Zeitlosigkeit nach sich ziehe und somit Differenzen zwischen Forschenden und Forschungssubjekten entstehen, wobei „Kultur“ das essentielle Werkzeug sei, um „Andersheit“ zu konstruieren (Abu-Lughod 1991: 50-56).
Ich habe mich gefragt, wie man gegen Kultur schreiben kann, wenn man ein Phänomen beschreiben will, welches so stark auf einem a-historischen, essentialistischen und binären Kulturbegriff aufgebaut ist. Ich finde es sehr schwierig, dem Anspruch von Abu-Lughod gerecht zu werden, weil wir als Anthropolog*innen menschliche Interaktionen beschreiben, beobachten und analysieren, wobei es dazugehört, reale Wirklichkeiten zu untersuchen, in welchen unter Anderem ein essentialistischer Kulturbegriff vorherrscht. Wie kann man in einer Welt, die sich technologisch immer mehr globalisiert, jedoch wenn es um regionale Grenzen geht, immer ausschliessender und rassistischer wird, noch erfolgreich für einen dynamischen Kulturbegriff einstehen und versuchen zu zeigen, dass das „Eigene“ und das „Andere“ sehr komplexe Konstruktionen sind?
Zudem ist mir aufgefallen, dass die Identifikation des Mulim*in-Seins bei diesen Formen von Diskriminierung immer von einer außenstehenden Person durchgeführt wird. Menschen nehmen sich das Recht, über andere zu urteilen und zu bestimmen, nach welchem Glauben Menschen leben. Schon allein dieser Prozess zeigt die hegemoniale Ansicht gegenüber Minderheiten, denn was heißt es eigentlich, Muslim*in zu sein? Weiß man nicht erst dann, ob sich jemand diesem Glauben bekennt, wenn man mit dem Menschen spricht, interagiert und kommuniziert? Wie ich in meiner Forschung zum Hijab herausgefunden habe, ist die Selbstbezeichnung für die Menschen mit muslimischer Geschichte nicht immer klar und einfach. Es war zu Beginn der Forschung sehr spannend zu erkennen, wie wir „muslimische Frauen“ auswählten und wir im Laufe der Zeit bemerkten, dass wir von außen nicht beurteilen können, wer nun Muslimin ist und wer nicht. Niusha, deren Eltern aus dem Iran vor langer Zeit in die Schweiz gekommen sind, führte dies sehr treffend aus:
„[...] Viele haben immer gesagt, du bist Muslimin, weil du so aussiehst. Meine Eltern sagten mir: ‚Nein, du bist nicht Muslimin’, weil sie mich so ein bisschen davor schützen wollten. Dann habe ich plötzlich gecheckt, eigentlich bin ich es, aber ich bin es auch nicht. Das, was jeder von sich sagen kann, bei mir ist es halt einfach nicht der klare Fall. In der Schweiz würde ich, wenn das jetzt nicht ein Interview wäre, wenn mich jemand fragt, sage ich, ich bin nichts. Aber so im Iran könnte ich das nie sagen. Es kommt auch immer darauf an, wo du bist und was es für dich bedeutet und wie viel du darüber weißt [...]“. – Niusha
Dieses Phänomen beschreibt auch Cheng in ihrem Text, indem sie beschreibt, dass Muslim*in-Sein viel komplexer ist, als einfach eine freiwillige, religiöse Identität zu konstruieren und anzunehmen, wie es in muslim- und in islamfeindlichen Debatten oft gemacht wird (Cheng 2015: 563). Sie schreibt: „The problem is however, that traditional categories for challenging discrimination no longer apply to „Muslims“ as a group: Muslims transcend categories of „race“, nationality, ethnicity, and skin color [...]“ (Cheng 2015: 563).
4. Bibliographie
4.1 Literatur
Abu-Lughod, Lila 1991: Writing Against Culture. In: Fox, Richard (Hrsg.): Recapturing Anhtropology. Working in the Present. Santa Fe. 50-59.
Cheng, Jennifer E. 2015: Islamophobia, Muslimophobia or racism? Parliamentary discourses on Islam and Muslims in debates on the minaret ban in Switzerland. In: Discourse and Society Vol 26 (5). 563-586.
Dietze, Gabriele, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) 2009: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld: Transcript.
Eidgenössische Kommission gegen Rassismus 2006: Mehrheit und muslimische Minderheit in der Schweiz. Stellungnahme der EKR zur aktuellen Entwicklung. Bern: Eidgenössische Komission gegen Rassismus 2006.
Kerboua, Salim 2016: From Orientalism to Neo-Orientalism: Early and Contemporary Constructions of Islam and the Muslim World. Intellectual Discourse - IIUM Journals. 7-34.
Shooman, Yasemin 2014: Einleitung. In: «...weil ihre Kultur so ist»: Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: Transcript. 13-34.
Shooman, Yasemin 2014: Historische Traditionslinien und theoretische Einordnung antimuslimischer Diskurse. In: «...weil ihre Kultur so ist»: Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: Transcript. 35-81.
Wiedemann, Felix 2012: Orientalismus. In: Docupedia Zeitgeschichte. Version 1.0. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
4.2 Internetseiten
Universität Luzern 2017: Islam.
<https://www.unilu.ch/fakultaeten/ksf/institute/religionswissenschaftlichesseminar/forschung/islam/>. 01.06.2018.
4.3 Beispiele aus der eigenen Forschung
Für das Essay wurden Zitate aus Interviews mit zwei Frauen mit muslimischem Hintergrund aus dem Kanton Bern verwendet. Ihre Namen sind anonymisiert bzw. es wurden Pseudonyme verwendet, weil dies von den Frauen so gewünscht wurde.
Der Titel des Forschungsberichtes lautet: «Das Kopftuch - Relevanz und Bedeutungen für muslimische Frauen sowie ihre Erfahrungen im Kontext der Gesellschaft» (Eine sozialanthropologische Forschung in der Schweiz) und wurde verfasst von Zoe Beer und Meret Wälti im Rahmen der Forschungsübung I & II. Sie wurde eingereicht bei Prof. Dr. Tobias Haller im Februar 2018.
Originalaussage von Khadija (Name geändert) auf Französisch. Übersetzung: „Alle Migrant*innen haben Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Ob mit oder ohne Kopftuch, es ist dasselbe. Man muss sich immer rechtfertigen. Man hat Männer und die Männer haben kein Kopftuch. Er heißt Muhammad und man wird immer Fragen stellen wie: «Bist du Muslim? Machst du Ramadan?». Und wieso akzeptiert ihr das nicht? Das ist eine Frage der Anklage einer ganzen Religion, nicht nur der Frau“.
Bemerkungen
Den Begriff „Orient“ verwende ich hier in Bezug auf die Theorien des Orientalismus / Neo-Orientalismus und setze ihn in Anführungs- und Schlusszeichen, da er eine ganze Weltregion homogenisiert und keine Differenzierungen zwischen den einzelnen örtlichen Begebenheiten erlaubt. Der Begriff muss heute im aktiven Sprachgebrauch vermieden werden.
Der Begriff Islam wird im Essay benutzt, was aber nicht heißen will, dass es nur eine Form des Islams gibt, sondern viele verschiedene Auslegungen davon.