Ich habe schon länger nichts mehr publiziert. Nicht,weil ich nicht mehr geschrieben habe, sondern weil es mir nicht gelungen ist, etwas zu schreiben, das meinen Ansprüchen entsprach. In den letzten Monaten bestanden meine Notizen vorwiegend aus deprimierenden Wortfetzen, die wenig sinnstiftend und viel zu persönlich für die Öffentlichkeit sind. Ich schrieb über meine Erschöpfung, Überforderung und fehlende Resilienz sowie darüber, wie ausgebrannt, leer und energielos ich mich fühlte. Ihren Anfang nahm die Anspannung während meines Masterstudiums, das mir so viel abverlangte, dass ich tagelang nicht das Haus verliess und wochenlang nicht allein, ohne Wein oder Entspannungsbad einschlafen konnte. Ein Studium, das mich so sehr unter Druck setzte, dass ich meine sozialen Beziehungen und diese zu mir selbst vernachlässigte. Ein Studium, bei welchem uns in der ersten Woche der psychologische Dienst vorgestellt wurde, weil sie damit rechneten, dass in diesem Jahr reihenweise Studierende zusammenbrechen werden. Ich hatte das Angebot nie genutzt, obwohl ich einige Male während des Verfassens meiner Masterarbeit das Gefühl hatte, kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Doch die Empfindung, die mich damals vor allem überkam, war Scham, denn Überforderung war nichts, was ich mit meinem Selbstbild vereinbaren konnte, da ich doch meine Ziele meist mit Leichtigkeit und ohne grossen Aufwand erreichte. Mentale Überbelastung zählte ich nicht zu meiner Realität, denn bisher hatte ich das Spiel des Konkurrenzkampfes und der Performanz beherrscht.
Ich habe die Warnsignale also weitgehend ignoriert und mich in den nächsten Wettbewerb gestürzt, namentlich in die Stellensuche. Da ich monatelang gesucht und nichts in meinem Bereich gefunden habe, ging ich zurück in die Schweiz, meldete mich beim RAV an und suchte nach Beschäftigungsmöglichkeiten. Ich arbeitete als Stellvertreterin – 24 Lektionen pro Woche – und schrieb währenddessen rund 60 Bewerbungen. Schliesslich wurde mir eine Praktikumsstelle angeboten, die ich annahm und nach zwei Monaten wieder kündigte, da sie meinen Geist noch mehr erschöpfte als die Stellensuche selbst. Bald nach meiner Kündigung bekam ich die Arbeitsstelle in Quito, wo ich momentan arbeite.
Als ich das Praktikum in der Schweiz beendete, kam der Stillstand und somit die Erschöpfung: Jede Nacht schlief ich ungefähr 12 Stunden und zusätzlich 2-3 Stunden nachmittags, sofern ich mich überhaupt überwinden konnte, aufzustehen. Ich hatte weder Energie, etwas zu lesen, jemanden zu treffen, noch mich zu bewegen. Ich war komplett erschöpft, deprimiert, lustlos und wollte niemandem begegnen, mich am liebsten verkriechen. Ich wollte in meinem Bett bleiben und in die Leere starren. Ich schämte mich für den Fakt, dass ich jetzt mal Zeit gehabt hätte und dafür, dass ‘gar nichts passiert ist’ und ich mich trotzdem so ausgelaugt fühlte. Die Psychotherapie, die ich seit Februar machte, half mir zwar weiter, aber trotzdem verbesserte sich meine Gemütslage kaum. Ich fühlte mich depressiv, paralysiert, ängstlich und vor allem leer. Zu fest in meinen Gedanken und zu wenig in meinem Körper. Die Verbindung zu meinem Körper und meinen Emotionen hatte ich verloren und geniessen konnte ich kaum etwas. Einige Male versuchte ich, die Natur und die ‘kleinen Dinge’ wertzuschätzen, aber es gelang mir nicht. Ich fühlte mich gefangen in meinem Kopf, in dieser Stadt und in dieser Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die einen leeren, unerfüllten, unzufriedenen und entfremdeten Geist produziert. Ein schweres Gemüt.
Ein Grund, weshalb viele Menschen heute mit Überforderung, Angstzuständen, Depressionen oder Burnouts zu kämpfen haben, ist die «soziale Beschleunigung» und die «Rhetorik des Müssens», beide Begriffe geprägt vom Soziologen Hartmut Rosa. Rosa beschreibt in seinem Buch «Beschleunigung und Entfremdung», wie die Logik des Wettbewerbes in allen Sphären des sozialen Lebens vorherrscht und wie die Individuen sich in einem dauernden Konkurrenzkampf um Bildungsabschlüsse, Jobs, Einkommen, Erfolg, Konsum wie auch um Freund*innen und Partner*innen befinden. Wir erleben also nicht nur beruflich einen Wettbewerb, sondern auch sozial, so Rosa: «Wenn wir uns nicht als nett, interessant, unterhaltsam und attraktiv genug präsentieren, wenden sich Freunde und sogar Verwandte recht schnell von uns ab». Die Position eines Individuums wird nicht mehr (nur) durch Geburt bestimmt und bleibt über das Erwachsenenleben nicht stabil, sondern ist Gegenstand «permanenter kompetitiver Aushandlung». Wir müssen also immer wieder enorm viel Energie aufwenden, um unser Selbstbild und unsere Fremdwahrnehmung aufrechtzuerhalten. Wir müssen immer schneller tanzen, immer schneller rennen, denn «die Konkurrenz schläft nicht». Wir befinden uns in einem Beschleunigungszirkel, der besagt, dass wir in kürzerer Zeit immer mehr machen müssen. Dieses Hamsterrad, das wir kaum verlassen können, befriedigt aber nicht unseren Lebenshunger, sondern frustriert uns, weil wir immer das Gefühl haben, «zu wenig zu machen». Zeitverschwenden gilt heute als Sünde, während unser Leben von der «Macht der Deadlines» bestimmt wird und wir ständig das Gefühl von Zeitknappheit und «Gegenwartsschrumpfung» verspüren. Rosas Analyse der heutigen Zeitnormen ist alarmierend: Er meint, das heutige Regime der sozialen Beschleunigung nehme allmählich eine Form der totalitären Herrschaft an, das «die ihm Unterworfenen dazu bringt, nachts schweissgebadet und von entsetzlicher Angst gepeinigt, mit einem unerträglichen Druck auf der Brust aufzuwachen, in der Erwartung, dass ihr sozialer Tod (oder ihr tiefer Fall) mehr oder minder unvermeidlich sei». Die Beschleunigung ist so allumfassend, dass Folgendes passiert: Sie übt einen so grossen Druck auf die Subjekte aus, sodass diese stets befürchten, zurückzufallen, nicht mehr mitzukommen oder abgehängt zu werden und daher eine Pause einlegen zu müssen.
Es besteht meiner Meinung nach eine enorme Dringlichkeit, sich mit der sozialen Beschleunigung und deren Konsequenzen zu befassen, da sie unaufhörlich angetrieben, also nicht langsamer, sondern immer schneller wird. Wie oft denken wir: «Ich muss nun wirklich arbeiten. Ich muss die Steuererklärung einreichen. Ich muss etwas für meine Fitness tun. Ich muss eine weitere Fremdsprache erlernen. Ich muss meine Hard- und Software aktualisieren. Ich muss die Nachrichten sehen» (Hartmut Rosa). Nicht ohne Grund schreibt Kenneth Gergen, dass das tägliche Leben ein Meer von Forderungen geworden ist, das uns überflutet. Land sei dabei keines in Sicht. Die Kräfte der Beschleunigung fühlen sich nicht als befreiend an, sondern als unterdrückerische und permanenten Druck ausübende Macht. Zuletzt bewirkt sie auch eine Entfremdung gegenüber sich selbst und gegenüber der Welt: wir fühlen uns entfremdet, weil wir nicht wirklich wissen, wer Macht auf uns ausübt, so Rosa: «Wir mögen uns entfremdet fühlen, wenn wir den ganzen Tag bis Mitternacht arbeiten, ohne dass uns dies jemand vorschreibt». Wir zweifeln an den Zielen und Praktiken unseres Tuns und doch müssen wir «irgendwie so handeln». Wir handeln oft gleichzeitig ‘freiwillig’ aber auch ‘gegen unseren eigenen Willen’ und wenn wir über lange Zeit so handeln, vergessen wir irgendeinmal, was unsere eigentliche Absicht war und es bleibt ein vages Gefühl der «Fremdbestimmung ohne Unterdrücker».
Wenn wir entfremdet sind, tun wir also freiwillig Dinge, die wir nicht wirklich tun wollen und wir sammeln vermehrt Erlebnisse anstatt Erfahrungen; wir tun entsinnlichte Aktivitäten anstatt sinnstiftende Beschäftigungen, was bewirkt, dass uns unsere aufgewendete Zeit als fremd erscheint. Zudem pflegen viele von uns so viele soziale Kontakte in so kurzer Zeit, dass wir völlig übersättigt sind, was es unwahrscheinlich macht, dass wir wirklich zueinander in Beziehung treten.
Fakt ist demnach, dass jeder Bereich unseres Lebens von sozialer Beschleunigung durchdrungen ist. Die Beschleunigung ist nicht nur für unser Berufs-, Sozial- und Privatlebend bestimmend, sondern auch in politischen Belangen: Rosa beschreibt adäquat, dass in der heutigen Politik nicht mehr das bessere Argument, sondern flüchtige Bauchgefühle zählen und vorwiegend Metaphern und Bilder, die schneller funktionieren als Worte, verwendet werden. Dabei werden vor allem leere Worte gebraucht, die das reflexive Bewusstsein nicht beanspruchen, um eine Entscheidung zu fällen: «Argumente, die sinnvoll sind, verlieren angesichts der Geschwindigkeit des sozialen Lebens an Wichtigkeit und sind ‘zu langsam’ geworden». Nicht nur angesichts der Tatsache, dass gut durchdachte, wissenschaftliche oder komplexe Argumente politisch ihre Bedeutung verloren haben, sondern auch weil die Gefahr besteht, dass wir nicht mehr aus dem Delirium des «rasenden Stillstandes» rauskommen, ist die soziale Beschleunigung höchst politisch. Und trotzdem gibt es keine politische Debatte über sie oder ihre psychologischen, spirituellen und seelischen Konsequenzen. Vielmehr werden Menschen in verschiedenen Diskursen für ihr ‘schlechtes Zeitmanagement’, ihr individuelles Versagen oder ihre Faulheit verantwortlich gemacht, wenn sie den Eindruck haben, nicht mehr mitzukommen.
Das Gefühl der Erschöpfung, das ich und etliche andere Menschen erleben, ist eine Form der Verlangsamung, eine Reaktion auf den überhöhten Beschleunigungsdruck. Der ständige Produktivitäts- und Performanzdruck kann langfristig auch dazu führen, dass unsere Reflexivität und Autonomie verloren gehen und wir es nicht mehr schaffen, kreative, radikale Transformationen einzuleiten. Wie sollen wir als Gesellschaft und als Welt menschlicher, gerechter und gesünder werden, wenn die jungen, motivierten, hoffnungsvollen und hoffentlich noch optimistischen Subjekte erschöpft, ausgelaugt und uninspiriert sind? Wie sollen wir als Kollektiv weiterkommen, wenn wir als Individuen untergehen?
Kollektive oder politische Lösungsansätze gibt es wenige. Die meisten davon schieben den Individuen die Verantwortung zu und empfehlen ihnen individuelle Entschleunigungspraktiken wie Yoga, Meditation, Wandern oder das Einlegen von kurzen Verschnaufpausen. Oftmals dienen diese Inseln der Entschleunigung im Alltag aber nur dazu, im Rennen noch schneller zu sein. Die Empfehlungen erinnern vielmehr an Formen der spirituellen Produktionssteigerung als an wirklichen Widerstand gegenüber der «Grind Culture», der Kultur des immerwährenden Hustles.
Ein kollektiver Lösungsansatz könnte die Fokusverschiebung von individuellem Erfolg, Leistungsfetisch und Glorifizierung von Überbelastung hin zu mehr Gemeinschaft, Sorgfalt, Fürsorge und Ruhe sein, geprägt von beispielsweise Tricia Hersey, Gründerin des Projektes «The Nap Ministry». Sie fokussiert in ihrer Arbeit auf den Zusammenhang zwischen weisser Vorherrschaft, Rassismus und Kapitalismus und wie das Ausruhen insbesondere für BIPOC eine wirksame, heilende Widerstandsstrategie gegenüber ausbeuterischen und traumatischen Strukturen darstellt. Ihre Wissenschaft und Theorie, die schon von ihren Vorfahren praktiziert worden war, betont, dass ‘Naps’ nicht dazu da sind, um danach wieder genau gleich weiterzumachen oder sogar noch schneller, im Gegenteil: «We are NOT resting to be more productive. We are resting because we are divine and it is our divine right to do so. That’s it». Hersey erklärt, dass das kapitalistische, beschleunigte System uns das Gefühl gibt, wir hätten zu funktionieren wie Maschinen und nicht wie Menschen mit Träumen und Utopien. Zudem führe die Kapitalisierung unserer Körper und unseres Geistes dazu, dass wir emotional abhärten: «The system makes us hard. Rest keeps us tender. There is power in the collective rest and care». Damit wir also kreative, befreiende Gedanken entwickeln können, müssen wir ausgeruht sein, denn «exhaustion will not create liberation». Nur wenn wir ausgeruht sind, kümmern wir uns um das Wohlbefinden anderer, um den Zustand der Gemeinschaft und unser aller Gemeinwohl.