Wir sind alles und gleichzeitig nichts von alldem.
Gestern fragte eine Freundin in unsere Runde, ob wir uns frei fühlten. Einige von uns antworteten, sie fühlten sich aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht wirklich frei und dass sie ganz andere Dinge machen würden, wäre ihr Einkommen gesichert. Andere antworteten, sie fühlten sich unfrei wegen der Einschränkungen, der Pandemie und deren Auswirkungen. Auch ich fühle mich unfreier als sonst, obwohl ich grundsätzlich eine tiefgründige Freiheit verspüre. Eine Freiheit, die ich wahrscheinlich grösstenteils meiner privilegierten gesellschaftlichen Positionierung und meiner mentalen Gesundheit zu verdanken habe. Ich glaube jedoch auch, dass mich die Entscheidung, mich von niemandem (mehr) unter Druck setzen zu lassen, befreit hat. Sei es von Vorgesetzten, von Freund*innen, von Familie, von Bekannten oder von Social Media. Ich will keine impliziten Erwartungen erfüllen müssen. Erwartungen, dass ich alles schaffe, mir für alle(s) Zeit nehme, mich immer melde, Dinge unternehme, irgendein Bild verkörpere, das man von langer Zeit von mir konstruiert hatte. Dass ich mich nicht zu stark verändere, aber trotzdem immer ein bisschen wachsen sollte. Dass ich immer die Gleiche bleibe und dass ich keine Reibungen generiere, keine Konflikte auslöse. Dass ich überhaupt irgendwie kohärent sein sollte. Kohärenz ist das, was Menschen beruhigt. Keine bösen Überraschungen, keine Enttäuschungen.
Ich mag keine Kohärenz. Ich bin sprunghaft, rastlos, aber gleichzeitig diszipliniert, hartnäckig und ausdauernd. Konzentriert und fokussiert. Uneben. Holprig. Imperfekt. Ich will nicht, dass von mir kohärentes Verhalten eingefordert wird. Ich will nicht, dass wir so viel voneinander erwarten, wenn sonst schon so viel von uns erwartet wird.
Ich beobachte eine Tendenz, dass Menschen sich auf kohärente Identitäten, Kategorien und Benennungen fokussieren, immer alles verstehen, erklären und einordnen wollen: Es fühlt sich manchmal an wie ein Definitionswahn mit dem, was wir tun oder mit diesen Titeln, mit denen wir uns schmücken. Diese Benennungen, sich nicht widersprechen können, die ein kohärentes Bild formen müssen, obwohl wir alle eigentlich voller Widersprüche sind.
Ich kann einige persönliche Beispiele nennen, um diese Ambivalenzen zu verdeutlichen: Ich will mir grundsätzlich keine Gedanken machen über Ernährung, weil ich weiss, wie viele Menschen mit Nahrungsaufnahme zu kämpfen haben und ich Essen nicht zum Thema machen will. Essen ist eine überlebensnotwendige Funktion, die, wie ich finde, in der westlichen Hemisphäre enorm überthematisiert wird, was auch dazu führt, dass so viele Menschen auf irgendeine Art ein schwieriges Verhältnis dazu haben. Ich will also einfach essen, ohne darüber nachzudenken. Aus diesen Gründen fand ich Veganismus beispielsweise auch immer eine Einschränkung, die mein Leben verkomplizierte. Ich fand es etwas für ‘Verwöhnte’, die zu viel Zeit haben, um sich so intensiv mit einem für mich unwichtigen Thema auseinanderzusetzen. Mittlerweile habe ich diesen Gedanken revidiert und finde Veganismus aus ökologischer und ethischer Sicht das Logischste, das es gibt. Obwohl ich es also als etwas enorm Sinnvolles sehe, sträubt sich dennoch etwas in mir, mich als Veganerin zu identifizieren und mich strikt vegan zu ernähren.
Ein zweites Beispiel: Während ich mich für feministische Interessen einsetze, nerve ich mich teilweise enorm ab feministischen Diskursen. Viele feministische Inhalte sprechen mich nicht an. Ich nerve mich immer wieder ab Frauen*, wie ich mich auch ab Menschen mit anderem Geschlecht nerve. Ich unterstütze die Forderung nicht, dass ich alle Frauen* supporten soll, weil sie Frauen* sind. Ich muss nicht alle Frauen* bedingungslos nice finden, nur weil ich feministisch bin. Wir sind primär sowieso Menschen und nicht Frauen* oder Feministinnen. Feminismus ist für mich eine Haltung gegenüber Mitmenschen und gegenüber Ungerechtigkeiten, aber keine Identität. Sobald er zur Identität wird, wird er präskriptiv.
Ein drittes und letztes Beispiel: Ich bin ein Fan von Wissenschaft. Ich drücke mich gerne intellektuell und durch komplizierte Sprache aus, verabscheue aber gleichzeitig den akademischen Elitismus und dieses Fachjargon-Geplänkel. Ich mag einfache, vulgäre Sprache. Ich mag beides und will beides tun dürfen. Es verbietet mir zwar niemand aktiv, dass ich vulgäre und akademische Sprache mischen darf, doch ich weiss, dass ich nicht ernstgenommen werden würde, falls ich es täte.
Was mich als Person ausmacht, ist weder das Eine, noch das Andere, sondern vielmehr meine Widersprüchlichkeit. Meine Sprunghaftigkeit. Das macht mich lebendig. Alles Kohärente hingegen macht mich unfrei, lässt mich kalt, berührt mich nicht und engt mich ein.
Was ich mit diesen Beispielen sagen will: Eigentlich passen wir alle nicht in starre Kategorien. Sie helfen uns zwar, die Welt zu erfassen und zu ergründen, aber sie sind gleichzeitig limitierend und widerspiegeln kein Abbild der Realität.
Ich wünsche mir deshalb eine Welt, in welcher alle alles sein könnten. In dieser Idealwelt würden alle einengenden menschlich konstruierten Kategorien und Strukturen aufgeweicht werden. Menschen wären gleichgestellt und die Lebensrealitäten würden sich nicht so krass voneinander unterscheiden. Eine Welt mit weniger Tunnelblick, weniger Gegensätzen, dafür mit mehr Reflexion und mehr Offenheit. Offenheit für Veränderung, für Unkategorisierbares, für das Dazwischenliegende. Ich wünsche mir eine Welt mit weniger Benennungen, vor allem weniger Fremdbenennungen, denn sie sind immer Ausdruck von Macht. Kübra Gümüşay schreibt in ihrem Buch ‘Sprache und Sein’, dass die Unbenannten den Dingen Namen geben und gleichzeitig die Benennenden sind: «Die Unbenannten wollen die Benannten verstehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv’. Sie analysieren sie. Sie Inspizieren sie. Kategorisieren sie. Katalogisieren sie. Versehen sie schliesslich mit einem Kollektivnamen und einer Definition, die sie auf Merkmale und Eigenschaften reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemerkenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. In dem sie entmenschlicht werden».
Was bedeutet das für uns?
Für viele Menschen sind Benennungen selbstermächtigend. Sie geben dem Dasein einen Sinn, einen Namen, eine Identität. Aber es sind die Selbstbenennungen, die ermächtigen, nicht die Fremdbenennungen. Ich will niemanden (mehr) benennen, weil ich selbst nicht benannt werden will. Ich will nicht mit dem identifiziert werden, oder über das definiert werden, was ich tue, schreibe oder zu sein scheine. Weil ich mich selbst nicht mit meinem Tun identifizieren will. Wir sind alle mehr als die Namen, die uns gegeben werden. Wir sind vielschichtig, multidimensional, wir entsprechen nicht unserem Erscheinungsbild, nicht dem ersten Eindruck und auch nicht den Stereotypen, auf die wir einander festschreiben. Oder mit denen wir assoziiert werden. Wir haben verschiedene, widersprüchliche Anteile in uns, die unterschiedlich aktiviert werden. Wir sind nicht bei jeder Person dieselbe Version unseres Selbst, auch wenn wir integre Personen sind. Je nach Begegnung können andere Facetten von uns zum Vorschein kommen.
Dieser Text ist zwar persönlicher als meine üblichen, aber auch das Persönliche ist politisch. Denn der Impuls, immer alles benennen, vereinfachen oder homogenisieren zu wollen, entmenschlicht und gefährdet Menschen. Er hat schon Menschen umgebracht. Wer nicht ‘einteilbar’ scheint, wer andersgemacht wird, wird als Problem deklariert. Wir müssen diese Menschen schützen, indem wir uns von der Vorstellung befreien, die Welt bestünde aus klar voneinander abgrenzbaren Einheiten. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass all diese scheinbar ‘homogenen’ Kategorien menschgemacht und somit veränderbar sind. Das Ziel wäre demnach, weniger in Kategorien zu denken, sondern das Verwirrende, das Konfuse, das Inkohärente, das Undefinierbare, das Übergreifende, das Intersektionale, das Durcheinander, das Vielfältige, das Mehrdeutige und Mehrschichtige zu umarmen.
Wie befreiend wäre es, zu sein, wer immer wir sein wollten, ohne benannt zu werden? Ohne sich benennen zu müssen? Alles zu sein und trotzdem nichts von alldem?